84 ni. Weiteres znr Wertpsychologie. § 2. Die Gegengefülile. 85 und negativ werthalten soll, also speziell im vorliegenden Falle derselbe Mensch, der mir Grund gibt, mich über sein Dasein zu freuen und es andererseits doch auch wieder zu bedauern. Aber die Lage, in der das Subjekt sich da befindet, weist durchaus den Charakter eines Konfliktes auf und bestätigt dadurch nur neuerlich die Tatsache, daß es sozusagen beiden Anforderungen zugleich nicht besser Rechnung tragen kann, als ein materieller Punkt, an dem zwei verschieden gerichtete Kräfte an- greifen, sich zugleich in den beiden verschiedenen Richtungen fort- zubewegen imstande ist. Die Dinge stehen in unserem Falle eben so, als ob man vor die Übertragung der Werthaltung von den Eigenschaften auf deren Träger als vor eine Aufgabe gestellt wäre, die erst gelöst ist, wenn man es zu einer einheitlichen Wertstellungnahme diesem Träger gegenüber gebracht hat, die dann eine Art Resultierende aus den Wertstellungnahmen zu den einzelnen Eigenschaften darstellen mag. Vielleicht könnte man analog zu dem, was ich einst^ angezeigte und ausgeführte Vorstellungsverbindung genannt habe, von einer bloß an- gezeigten und einer ausgeführten Werthaltungsübertragung reden, und das hier und im folgenden Darzulegende zunächst nur auf die aus- geführte Werthaltungsübertragung beziehen. Der Übergang von der Werthaltungsübertragung zur Wertübertragung könnte dann immerhin neue Probleme mit sich führen, auf die hier noch nicht und später nur in sehr unvollkommener Weise eingegangen werden kann. Daß, was hier vom Sein gezeigt wurde, ebenso vom Nichtsein gilt, indem ich unter Voraussetzung der obigen Kautelen auch am Nicht- sein eines Gegenstandes nicht sowohl Freude als Leid erleben kann, versteht sich. Daß es ferner etwas geben sollte, das mir durch sein Sein ebenso wie durch sein Nichtsein Freude bereitete, dazu ist die Welt, cum grano salis verstanden, nicht teleologisch genug, — daß es etwas geben sollte, das durch sein Sein wie durch sein Nichtsein Leid brächte, dazu ist sie nicht disteleologisch genug eingerichtet. So kann auch nicht Seinsfreude mit Nichtseinsfreude, und ebenso wenig Seins- leid mit Nichtseinsleid zusammen bestehen. Wie man sieht, bleiben von den sich vorgängig in rein äußer- licher Weise darbietenden sechs Kombinationen überhaupt nur zwei übrig. Bei diesen zeigen sich nun aber die jedesmal zusammengegebenen zwei Glieder nicht nur verträglich, sondern wesentlich enger aneinander- geknüpft. Freue ich mich über das Dasein eines Dinges, so ist ja nichts selbstverständlicher, als daß mir sein Nichtdasein leid ist und umgekehrt. Ist mir dagegen sein Dasein leid, so ist es ebenso natürlich, daß mich sein Nichtdasein freut und umgekehrt. Das kann man leicht der Erfahrung entnehmen; es ergibt sich aber auch schon bei einiger Achtsamkeit auf die Natur der Sache, so daß man nicht umhin kann, hier einen apriorisch einsehbaren Zusammenhang zu vermuten. Was in dieser Weise innerlich verbunden auftritt, ist äußerlich durch die Gegen- sätzlichkeit seiner Bestimmungen gekennzeichnet, wenn man einerseits die Qualität des Voraussetzungsurteils, andererseits die des zugehörigen Gefühles in Betracht zieht. Seinsfreude gegenüber Nichtseinsleid, Nicht- seinsfreude gegenüber Seinsleid weist in jedem der beiden Kombinations- fälle das auf, was man in ohne weiteres verständlicher Weise als ent- gegengesetzte Vorzeichen charakterisieren kann. Gefühle von solcher Gegensätzlichkeit habe ich mit Rücksicht auf diese als Gegengefühle bezeichnet* ; die beiden Gegengefühlspaare sind es also, in deren Betrach- tung wir eben eingetreten sind und bei denen wir nun noch ein wenig verweilen müssen. Dem Anschein apriorischer Verbundenheit der Gegengefühle stehen nämlich, dies muß zuvörderst anerkannt werden, Erfahrungen in Menge gegenüber, die in Betreff der Möglichkeit gesonderten Auftretens der Glieder je eines Paares keinen Zweifel gestatten. Das ist zunächst für Seinsfreude leicht genug zu belegen. Es gibt Menschen, die ohne irgend- wie abergläubisch zu sein, sich doch freuen, so oft sie vierblättrigen Klee finden: es liegt ihnen aber nichts ferner, als betrübt zu sein, weil sie einmal keinen finden. Eine „Lust", das Wort im engen unpsycho- logischen Sinne verstanden, in dem „Vergnügung" immerhin deutlicher sein mag, läßt man sich, wenn der Zufall dergleichen bietet, „mit Freuden" gefallen ; wer aber nicht etwa vergnügungssüchtig oder sonst ohne inneren Halt ist, macht sich nicht leicht etwas daraus, wenn ein solcher Zufall sich nicht ereignet. Es freut uns, wenn jemand, der uns lieb ist, unerwartet eine hervorragende ethische oder künstlerische Befähigung betätigt; aber wir „verlangen" dergleichen nicht von ihm und sind's zufrieden, wenn er in diesen Hinsichten nicht hinter dem alltäglichen Mittelmaße zurückbleibt. Und wahrscheinlich halten wir es nicht nur unseren Lieben gegenüber so, sondern auch beim „fremden" Mitmenschen ; hervorragende ethische Befähigung schlagen wir hoch an, reagieren aber relativ schwach oder auch gar nicht auf deren Fehlen^. Gibt es sonach Seinsfreude ohne Nichtseinsleid, so nicht minder Seinsleid ohne Nichtseinsfreude. Das gilt zumeist von „Schmerzen" im engen, physischen Sinne, ebenso von vielem außerphysischen Ungemach. Dabei würden freilich Vorstellungs-, also insbesondere Empfindungs- gefühle, wie die erwähnten physischen Schmerzen an sich nur ganz äußerlich unter das eben namhaft gemachte Schema fallen: denn daß das bloße Nichtdasein körperlichen Schmerzes nicht schon selbst körper- liche Lust ist, das ist freilich selbstverständlich, wäre aber etwas wesent- lich anderes, als was uns jetzt beschäftigt. Man kann aber bekanntlich sehr wohl über körperliche Schmerzen betrübt sein: und für diesen Fall verdient die Tatsache Beachtung, daß ein Subjekt, das solcher Betrübnis sehr wohl fähig ist, sich über die Abwesenheit von Schmerzen Hume-Studien H, S. 88 (658). (Ges. Abhandl., Bd. H, S. 84.) \ygl. „Für die Psychologie und gegen den Psychologismus usw.", S. 5, auch „über emotionale Präsentation", S. 126 ff. 2 Zur Illustration dieses und der sogleich folgenden ethischen Beispiele auf dem von mir unter dem Namen des „MoraUschen" näher untersuchten Spezialgebiete vgl. meine „Psychol.-eth. Unters.", besonders die das „Unter- lassungsgesetz" betreffenden Ausführungen S. 89 f. und sonst.