u I. Voran ter^chungen. § 2. Wert und Bedürfnis. 15 \ dem wirklich Lebensmüden ein Bedürfnis nach dem zuzusprechen sem, was sein Leben erhält? Oder kann mau die Bedürfnisse eines physisch oder psychisch Kranken, der die Mängel seiner Veranlagung gut genug kennt um sie durchaus nicht an künftige Generationen vererben zu wollen unter dem Gesichtspunkte der Arterhaltung verstehen wollen ? [ ] Es kann also keineswegs alles, was der Selbst- und Arterhaltung dient, zwanglos unter den Gesichtspunkt des Bedürfnisses gebracht werden. Steht aber umgekehrt wenigstens jedes Bedürfnis mit Selbst- oder Arterhaltung in ausreichend enger Verbindung ? Gesetzt, die Verbindung bestünde, so wäre das für eine darauf bezogene Bedürfnisdefinition noch keineswegs beweisend: auch Erkenntnis ist nicht „Anpassung der Gedanken an die Tatsachen' S obwohl diese Anpassung mit der Erkenntnis meist mitgegeben ist. Aber in unserem Falle ist das Bestehen der Verbindung nichts weniger als selbstverständlich. Wer friert oder hungrig ist, hat sicher ein Bedürfnis nach Wärme und Speise, der müde Wanderer em Bedürfnis nach einem Ruheplatz und so fort. Aber dies alles offenbar lange bevor sein Leben dabei auch nur im entferntesten bedroht ist. Und beim Anerkennungsbedürfnis des Eitlen oder Ehrgeizigen scheinen einigermaßen vitale Momente überhaupt nicht leicht in Frage kommen zu können. Man beruft sich hier freilich leicht und gern darauf, daß Freude von Natur lebensfördernd, Leid lebenshemmend sei, und wird hiemit innerhalb angemessener Grenzen auch etwas recht Wahrschein- liches herangezogen^ haben. Aber dieser Bedeutung von Lust und Unlust sind wir beim heutigen Stande unseres psychologischen Wissens um vieles weniger sicher als jener Bedürfnistatsachen, die man auf sie zurückzuführen versucht. Jene Bedürfnisse sind also als solche doch wohl schon erkennbar ohne Hilfe dieser Hypothese: und der Frierende wird sicher auch dann ein Bedürfnis nach dem warmen Zimmer haben, wenn ihm nachgewiesen werden könnte, daß das Frieren der Selbst- und Arterhaltung im allgemeinen oder in diesem besonderen Falle nicht das Geringste abträgt. . .^ i Es könnte leicht sein, daß, sobald der eben aufgewiesene Mangel an der vorausgesetzten Koinzidenz zugegeben werden muß, damit auch das Hauptinteresse an der Bedürfnisdefinition des Wertes geschwunden ist. Dieses Interesse wurzelt ja nicht zum geringsten Teile in der Hoff- nung mit Hilfe der in Rede stehenden Definition den Wert von jeder etwa' zu besorgenden Beziehung zur Psychologie loszulösen, zugleich aber doch dem Kompetenzgebiete biologischer Betrachtungsweise zu sichern, der das oben konstatierte anscheinende Hinausreichen des Wertes über das Organische schwerlich nennenswerte Schwierigkeiten zu bereiten imstande wäre. Inzwischen überhebt uns dieser Fehlschlag doch in keiner Weise der Aufgabe, das Verhältnis zwischen Wert und Bedürfms dadurch zu klären, daß wir in das Wesen des Bedürfnisses einen positiven Ein- blick zu gewinnen versuchen. T^n Überschätzung des biologischen Momentes in der Werttheorie vffl jetzt übrigens R. Müller-FreLenf eis .Grundzüge einer neuen Wertlehre in den .Annalen der PhUosophie", Bd. I, 1919, S. 358 ff. Es wird kaum jemanden geben, der sich die Frage nach diesem Wesen vorlegt, ohne sofort auf den Umstand aufmerksam zu werden, daß jedes solche Erlebnis ein Gerichtetsein auf etwas, auf ein Objekt aufweist, und zwar auf eines, das nicht existiert. Zwar spricht man ein Bedürfnis nach Kleidung oder Obdach auch dem zu, der Kleidung und Wohnung hat; das wäre natürlich ebenfalls ein Bedürfnis nach etwas, aber nach etwas, das existiert: man nennt das wohl ein „befriedigtes" Bedürfnis. Aber hier merkt man sofort, daß es sich bei dem Attribut „befrie- digt"^ um eine jener Scheindeterminationen handelt, von denen bereits B. Bolzano gezeigt hat\ daß sie das angeblich bloß näher Bestimmte in Wahrheit abändern: ein befriedigtes Bedürfnis ist streng genommen nicht mehr Bedürfnis, als etwa ein ausgebranntes Feuer ein Feuer ist. Man kann also ganz allgemein sagen: Ein Bedürfnis ist stets auf ein Nichtexistierendes als auf sein Objekt gerichtet. Die Gegenständlichkeit, die sonach allem Bedürfnis konstitutiv ist, legt die Vermutung nahe, beim Bedürfnis werde man es mit einem psychischen Erlebnis zu tun haben, da bei einem solchen die Gegen- ständlichkeit ja eine so wesentliche Rolle spielt. Ganz zwingend ist eine derartige Erwägung nicht: was auf etwas, also auf einen Gegenstand gerichtet ist, braucht nicht geradezu ein Erlebnis zu sein, wie schon jeder Fall von Bewegung in eigentlichem, uuübertragenem Sinne, z. B. die Bewegung des fallenden Steines beweist, die auf den Erdmittel- punkt gerichtet ist. Für das Bedürfnis aber bewährt sich, vorerst von einigen anscheinenden Gegeninstanzeu abgesehen, auf die wir unten^ zurückkommen, die Vermutung: jedem Bedürfnis ist ein Erlebnis wesent- ] lieh, das man deshalb ganz wohl das Bedürfniserlebnis nennen kann. 1 Das Erlebnis ist allemal ein Unlustgefühl, das Wort im weiten Sinne verstanden, wie er in der Psychologie gebräuchlich ist. Denn vom Bedürfuisobjekt, das übrigens sehr verschieden beschaffen sein kann, gilt ohne Ausnahme, daß unter der Nichtexistenz desselben das bedürftige Subjekt in irgend einer Weise leidet. Dabei kann das Verhältnis dieses Leidens zu jener Abwesenheit zwei Gestalten annehmen. Wer seine Umgebung an seiner Lebensarbeit teilnahmslos, wohl gar übelwillig vorübergehen sieht, der hat ein Bedürfnis nach Verständnis und gutem Willen: er weiß, daß beides fehlt und an dieses Wissen knüpft sich sein Leid. Aber auch der Kranke, der in einer feuchten, finsteren Kammer vergebens auf Genesung wartet, hat Bedürfnis nach Licht und Luft, selbst wenn er den Mangel daran nicht direkt als Übel verspürt, und wenn er auch nicht weiß, daß die Beseitigung des Mangels eine Bedingung seiner Genesung ausmacht. Man sieht, daß von diesen beiden Fällen nur der erste ganz, der zweite hingegen bloß sozusagen seinem zweiten Teile, dem Leiden nach in den Bereich des Erlebbaren fällt. Mit Rücksicht hierauf kann man passend von vollständig erlebten gegen- ' über unvollständig erlebten Bedürfnissen reden. \ 1 Wissenschaftslehre. 2 Vgl. S. 17. «s