§ 5. Die Partialwerte und der Totalwert. 139 bereits gesehen, daß das Gefühl sich den Geboten der „Vernünftigkeit" augenscheinlich noch weniger willig fügt als unsere Intelligenz¹, und daß insbesondere die abstumpfende Wirkung der Gewöhnung ganz beträchtliche Stärkeverschiedenheiten zwischen den Gegengefühlen im Gefolge haben kann. Darin liegt nun ein Mittel, sich von der eigen- tümlichen Weise des Auseinandergehens von Werthaltungs- und Wert- größe Rechenschaft zu geben. Ich habe davon durch die Aufstellung Gebrauch gemacht, daß die Größe des Wertes durch die Größe sowohl der Seins- als der Nichtseinswerthaltung, näher durch die Summe aus diesen beiden Größen bestimmt sei. Der Gesunde wendet seinem Wohl- sein, an das er gewöhnt ist, kein sonderliches Wertgefühl zu; an der Erkrankung würde er aber eben darum um so schwerer tragen, so daß die Summierung der beiden Werthaltungsstärken, soweit eine solche möglich ist, ein der Wertgröße entsprechendes Resultat liefert. In dem Bemühen, dieser Aufstellung möglichst große Allgemeinheit zu erteilen, hat Chr. v. Ehrenfels zunächst auf Fälle hingewiesen, wo Daseins- und Nichtdaseinsgefühl nicht, wie im eben beigebrachten Bei- spiel, entgegengesetzte, sondern gleiche Vorzeichen aufweisen, ein Tat- bestand, der etwa in jeder Operation verwirklicht erscheint, zum Beispiel einer Zahnextraktion, deren Existenz Schmerz mit sich führt, indes auch ihr Unterbleiben mit Schmerz verknüpft ist. Zugleich scheint daran klar zu werden, daß die resultierende Wertgröße sich nicht nach der Summe, sondern nach der Differenz der auf Sein und Nichtsein bezogenen Werthaltungen richtet. Die Operation hat um so größeren Wert, je mehr an Schmerzen man sich durch sie erspart, also je weiter die Schmerzhaftigkeit der Therapie hinter der Schmerzhaftigkeit der durch sie zu beseitigenden Erkrankung zurückbleibt. Das Differenzgesetz ist dann auch auf die von mir beachteten Fälle zu übertragen, bei denen, weil das eine Gefühlsvorzeichen dem anderen entgegengesetzt ist, die algebraische Differenz sich in eine Summe umwandelt, so daß allgemein formuliert werden kann: „Die Wertgröße eines Objektes ist proportional dem Abstande zwischen dem auf jenes Objekt bezüglichen Affirmations- und Negationsgefühle"." 6 Was nun zunächst die Erweiterung anlangt, so ist es ja schon Ehrenfels selbst nicht entgangen, daß es sich dabei im Grunde um Fälle handelt, die eine Zusammensetzung von Werttatbeständen dar- stellen. Vereinigt die Operation in sich die beiden Eigenschaften, Schmerz zu lindern und Schmerz zu bereiten, so versteht sich, daß der Wert des Gesamttatbestandes sich nach dem Werte beider Komponenten richten, zunächst also die Werthaltung des Gesamttatbestandes dadurch zustande- 1 Vgl. oben S. 87 f. 2 Über diese vgl. „Allgemeines zur Lehre von den Dispositionen" in den von mir herausgegebenen Beiträgen zur Pädagogik und Dispositionstheorie", S. 52. 8 Über Werthaltung und Wert", a. a. O., S. 337. 99 99 4 Von der Wertdefinition zum Motivationsgesetz“, Archiv f. systemat. Philos., Bd. II, 1896, S. 108 ff. 5 A. a. O., S. 110. 6 Vgl. a. a. O., S. 109.