86 III. Weiteres zur Wertpsychologie. darum bei weitem noch nicht zu freuen braucht. Unmittelbar nach der Genesung freut man sich wohl nicht selten der wiedererlangten Gesund- heit, dem Gesunden aber fehlt bekanntlich nur zu oft jede Schätzung dessen, was er in seiner Gesundheit besitzt. Auf ethischem Gebiete findet man im Verhalten der Gesamtheit zu Verbrechen und Verbrechern deut- liche Belege für das hier Behauptete: die verbrecherischen Anlagen verspüren wir, wo sie uns begegnen, deutlich als Übel, während wir uns bei bloßem Mangel an solchen kaum aufzuhalten pflegen. Nichtseinsleid ohne Seinsfreude zeigt unser Verhalten sehr häufig den Gegenständen gegenüber, die zur Abhaltung von Schmerzen oder sonstigen Unannehmlichkeiten, wie wir deren eben zuvor gedacht haben, dienen an Einrichtungen im Interesse öffentlicher Gesundheitspflege zum Beispiel wird man sich recht lebhaft und unliebsam gemahnt fühlen, wo sie fehlen; sind sie da, so denkt niemand daran. Ähnliches gilt von Bequemlichkeits-, ja Genußmitteln, die einem zum „Bedürfnis" geworden sind der Reiche macht sich nichts aus dem Komfort, in dem er von Jugend auf gelebt hat; indes er ihn schmerzlich vermißt, wenn er sich einmal ohne ihn behelfen muß. Im Bereiche des Ethischen bietet Hieher- gehöriges das Verhalten der öffentlichen Meinung etwa zum moralisch „Korrekten", das deren Aufmerksamkeit und Reaktion erst dort auf sich zieht, wo es fehlt. Nichtseinsfreude ohne Seinsleid endlich kann man erleben, wo man sich an etwas Unangenehmes ausreichend gewöhnt hat, um dadurch nicht mehr belästigt zu werden, den Entfall dieses Unangenehmen aber doch noch als Erleichterung verspürt. Wer gelernt hat, auch in unruhiger Umgebung geistige Arbeit zu tun, mag, wenn der Lärm einmal aussetzt, das immerhin noch als eine Wohltat sich gern gefallen lassen. Auch hier kann man übrigens der ethischen Erfahrung ein illustrierendes Beispiel entnehmen: ich meine, wie nach dem bisherigen leicht zu erraten, das Verhalten zum moralisch „Zulässigen". Man wird stets sehr erfreut sein, wenn man dort, wo man der Natur der Sachlage nach mit der Eventualität dieses „Zulässigen" rechnen muß, es nicht antrifft; trifft man es aber, so findet man sich zumeist ohne Mühe darein. Durch Beispiele dieser Art ist der empirische Nachweis dafür erbracht, daß Gegengefühle in keiner der Gestalten, in denen sie auf- treten können, durch Notwendigkeit aneinandergebunden sind. Es trägt der Beweiskraft der Beispiele nichts ab, wenn der Ausfall des betreffen- den Gegenteils nicht jedesmal restlos zu konstatieren wäre, wenn man es also hin und wieder nicht mit völlig reinen Fällen zu tun haben sollte. Denn die apriorische Gesetzmäßigkeit, deren Anschein diese Beispiele zerstören sollen, betrifft die Gefühle auch ihrer Stärke nach. Nicht nur, daß zum Beispiel Seinsfreude mit Nichtseinsleid Hand in Hand gehen muß, scheint jene Gesetzmäßigkeit zu verlangen, sondern auch, daß wo das Dasein eines Dinges mich in hohem Maße erfreut, das Nichtdasein des Dinges mit ebenfalls starkem Schmerz verbunden sein müßte. Ist also von zwei Gegengefühlen das eine gegenüber dem