§ 2. Die Gegengefühle. 85 die Qualität des Voraussetzungsurteils, andererseits die des zugehörigen Gefühles in Betracht zieht. Seinsfreude gegenüber Nichtseinsleid, Nicht- seinsfreude gegenüber Seinsleid weist in jedem der beiden Kombinations- fälle das auf, was man in ohne weiteres verständlicher Weise als ent- gegengesetzte Vorzeichen charakterisieren kann. Gefühle von solcher Gegensätzlichkeit habe ich mit Rücksicht auf diese als Gegengefühle bezeichnet¹; die beiden Gegengefühlspaare sind es also, in deren Betrach- tung wir eben eingetreten sind und bei denen wir nun noch ein wenig verweilen müssen. " Dem Anschein apriorischer Verbundenheit der Gegengefühle stehen nämlich, dies muß zuvörderst anerkannt werden, Erfahrungen in Menge gegenüber, die in Betreff der Möglichkeit gesonderten Auftretens der Glieder je eines Paares keinen Zweifel gestatten. Das ist zunächst für Seinsfreude leicht genug zu belegen. Es gibt Menschen, die ohne irgend- wie abergläubisch zu sein, sich doch freuen, so oft sie vierblättrigen Klee finden: es liegt ihnen aber nichts ferner, als betrübt zu sein, weil sie einmal keinen finden. Eine „Lust", das Wort im engen unpsycho- logischen Sinne verstanden, in dem „Vergnügung" immerhin deutlicher sein mag, läßt man sich, wenn der Zufall dergleichen bietet, ,mit Freuden" gefallen; wer aber nicht etwa vergnügungssüchtig oder sonst ohne inneren Halt ist, macht sich nicht leicht etwas daraus, wenn ein solcher Zufall sich nicht ereignet. Es freut uns, wenn jemand, der uns lieb ist, unerwartet eine hervorragende ethische oder künstlerische Befähigung betätigt; aber wir verlangen" dergleichen nicht von ihm und sind's zufrieden, wenn er in diesen Hinsichten nicht hinter dem alltäglichen Mittelmaße zurückbleibt. Und wahrscheinlich halten wir es nicht nur unseren Lieben gegenüber so, sondern auch beim „fremden" Mitmenschen; hervorragende ethische Befähigung schlagen wir hoch an, reagieren aber relativ schwach oder auch gar nicht auf deren Fehlen². " Gibt es sonach Seinsfreude ohne Nichtseinsleid, so nicht minder Seinsleid ohne Nichtseinsfreude. Das gilt zumeist von „Schmerzen" im engen, physischen Sinne, ebenso von vielem außerphysischen Ungemach. Dabei würden freilich Vorstellungs-, also insbesondere Empfindungs- gefühle, wie die erwähnten physischen Schmerzen an sich nur ganz äußerlich unter das eben namhaft gemachte Schema fallen: denn daß das bloße Nichtdasein körperlichen Schmerzes nicht schon selbst körper- liche Lust ist, das ist freilich selbstverständlich, wäre aber etwas wesent- lich anderes, als was uns jetzt beschäftigt. Man kann aber bekanntlich sehr wohl über körperliche Schmerzen betrübt sein: und für diesen Fall verdient die Tatsache Beachtung, daß ein Subjekt, das solcher Betrübnis sehr wohl fähig ist, sich über die Abwesenheit von Schmerzen 1 Vgl. „Für die Psychologie und gegen den Psychologismus usw.", S. 5, auch,,Über emotionale Präsentation", S. 126 ff. 2 Zur Illustration dieses und der sogleich folgenden ethischen Beispiele auf dem von mir unter dem Namen des „Moralischen“ näher untersuchten Spezialgebiete vgl. meine „Psychol.-eth. Unters.", besonders die das Unter- lassungsgesetz" betreffenden Ausführungen S. 89 f. und sonst. 29