§ 6. Denk- und insbesondere Urteilsgefühle. 61 kommen, hängt dann nur davon ab, ob das betreffende Urteil affirmativ oder negativ ist. Die der Kausalauffassung aus der Eventualität der Nichtexistenz erwachsende Schwierigkeit entfällt jetzt restlos, da ein negatives Urteil als Erlebnis dem affirmativen in keiner Hinsicht nach- steht, auch nicht in der Fähigkeit, ein Gefühl mit sich zu führen. Ob ferner das Urteil wahr oder irrig ist, kann, was das begleitende Gefühl anlangt, nicht wohl etwas verschlagen; auch im Falle eines affirmativen Existenzurteiles braucht also das Objekt des Wertgefühles keineswegs zu existieren. Ebensowenig kann eine Störung darauf zurückgehen, daß das Wertobjekt einmal statt in einem Existenz- in einem Bestand- objektiv, gleichviel ob positiver oder negativer Qualität, erfaßt wird, so daß, wenn wir zunächst noch vom letzten unserer obigen para- digmatischen Beispiele absehen, der für die Wertgefühle charakteristische Sachverhalt zusammenfassend so beschrieben werden kann: Jedesmal wird die Existenz oder der Bestand eines Gegenstandes durch ein Urteil erfaßt, an das sich ein Gefühl, eben das Wertgefühl, ausreichend eng anschließt, daß der beurteilte Gegenstand zugleich auch den Gegenstand des Gefühles abgeben kann. Ein Gefühl dieser Art wird passend Urteils- gefühl heißen dürfen, so daß sich nun auch sagen läßt: die Wertgefühle sind nicht nur Seinsgefühle, sondern (allerdings mit einem sogleich aus- zusprechenden Vorbehalte verstanden) auch Urteilsgefühle¹, wobei sich das Urteil als das adäquate Erfassungsmittel für das den Wertgefühlen charakteristische Sein der Wertgegenstände darstellt. Dieser Beschreibung fügen sich allerdings jene Potentialwert- erlebnisse nicht, die, obwohl auch für sie der Wertgegenstand nach seinem Sein respektive Nichtsein in Betracht kommt, doch nicht mit der Tatsächlichkeit des Seins respektive Nichtseins rechnen. Aber da ist das Werterlebnis, auch sofern es kein Begehren, sondern gefühls- artig ist, doch kein eigentliches, wenigstens kein Ernstwertgefühl, sondern ein Phantasiegefühl. Das Mittel, durch das dieses sich gleichsam seines Gegenstandes bemächtigt, ist kein Urteil, sondern eine Annahme², die hier wie sonst so oft³ Urteilsstelle vertritt. Man wird kaum irregehen, wenn man hier auch das Phantasiewertgefühl als eine Art Surrogat für ein Ernstwertgefühl betrachtet, daraufhin diesem die Stellung der 1 Wunderlicher Weise ist dieser schon 1894 („Psych. eth. Unters. usw.", § 8) eingenommenen Position der Vorwurf gemacht worden, daß sie „auch die sinn- liche Annehmlichkeit und Unannehmlichkeit (die »Vorstellungsgefühle«) nicht gattungsmäßig von den Wertgefühlen unterscheidet" (A. Boltunow, „Über den Strukturzusammenhang zwischen dem ästhetischen Wertgefühl und seinen intellektuellen Voraussetzungen", Berliner Diss. 1909, S. 6). Eher schiene es mir einen Mangel an „gattungsmäßigem Unterscheiden" zu verraten, wenn schon der Titel dieser Schrift von ästhetischem Wertgefühl" handelt. Über „ästhetischen Wert" vgl. immerhin unten IV, § 7. Übereinstimmendes zum Anteil des Urteils bei C. Stumpf verzeichnet meine Abhandlung „Über Urteilsgefühle, was sie sind und was sie nicht sind“ (Arch. f. d. ges. Psychol., Bd. VI, 1905, S. 27, auch Ges. Abhandl., Bd. I, S. 584); auf Einschlägiges bereits bei F. Brentano macht A. Boltuno w aufmerksam (a. a. O., S. 6). 2 Vgl. ,,Über Annahmen" 2, S. 332 ff. 3 A. a. O., S. 357 f.