§ 2. Wert und Begehren. 39 begehren, sofern feststeht, daß die vergangene, gegenwärtige oder auch künftige Existenz eben Tatsache ist. In diesem Sinne gilt der Satz: man kann nicht begehren, was ohnehin schon stattfindet, wie immer die Zeit des Stattfindens sich zu der des präsumtiven Begehrens ver- halten möge. 99 Anders scheint es mit der Untatsächlichkeit oder, wie man oft lieber sagt, mit der Nichtexistenz bewandt zu sein: nichts stellt sich als selbstverständlicher dar, als daß man eventuell begehrt, was nicht ist, ja nur dem Nichtsein gegenüber scheint das Begehren am Platze zu sein. Allein, so wenig ich am Dienstag wünschen kann, daß es Dienstag sei, so wenig kann ich an diesem Tage wünschen, der kom- mende Tag möchte Sonntag sein. Kann ich wirklich, wie man zu sagen pflegt, den nächsten Sonntag „nicht mehr erwarten", dann darf ich wohl sagen, ich wünschte, der Sonntag wäre schon nahe", aber hier verrät eben der Konjunktiv, daß der Indikativ und der durch ihn allein auszudrückende ernstliche Wunsch nicht anzubringen wäre, indes, was wirklich vorliegt, nur höchstens ein Phantasiebegehren ist. Beruft man sich dagegen darauf, daß die für eine bestimmte Zeit als tatsächlich feststehende Nichtexistenz gleichsam den Impuls oder auch nur die Gelegenheit abgeben könne, auf die Existenz des betreffenden Objektes für dieselbe Zeit das Begehren zu richten, so nimmt man damit, soviel ich sehe, etwas nicht minder Unmögliches in Anspruch, wie das eben erwähnte Begehren dessen, was ohnehin Tatsache ist. Wer dies ver- kennt und sich dabei auf die Erfahrung vom Gegenteil beruft, hat diese Erfahrung nicht genau genug zu Rate gezogen. Freilich, wer hungrig ist, weil es ihm an Nahrung fehlt, der begehrt zu essen, natürlich je eher, je lieber. Gleichwohl ist sein Begehren auf die Zukunft, und wäre es auch eine noch so nahe Zukunft bezogen und niemals auf die Gegen- wart im genauen Wortsinne, hinsichtlich deren sein Schicksal eben bereits erfüllt ist. Man mag nun freilich fragen: wenn die tatsächliche Nichtexistenz das Begehren ebenso verhindert wie die tatsächliche Existenz, wie kommt es, daß die Existenz zu einer gewissen Zeit nicht ebenso den motivartigen Ausgangspunkt für ein Begehren etwa hinsichtlich nächster Zukunft abgibt? Es ist darauf zu erwidern, daß die tatsächliche Existenz wirklich ebenfalls motivartig funktionieren kann, so vor allem bei Gegenbegehrungen: selbst im obigen Beispiel ist das Hungererlebnis etwas tatsächlich Existierendes und leicht mag einer begehren, es los zu werden. Daß aber nicht nur Gegenbegehrungen in Frage kommen, beweist, wer sich im Bade wohl genug fühlt, um noch länger im Wasser bleiben zu wollen. Allerdings kommt noch hinzu, daß im allge- meinen, wie es scheint, aus gegenwärtiger Existenz leichter auch auf künftige Existenz geschlossen werden kann, als aus gegenwärtiger Nichtexistenz auf künftige Nichtexistenz. Immerhin vollzieht sich aber 1 Über emotionale Präsentation", S. 165 f., vgl. auch W. Strich, „Das Wertproblem usw.", S. 36 f., übrigens auch schon Th. Lipps „Ethische Grund- fragen", 2. Aufl., S. 74.