38 II. Die Werterlebnisse. sie schon dem im weiteren Sinne möglichen Auftreten des Begehrens ganz besonders enge Schranken gesetzt sind¹, diese Begehrungsschranken aber natürlich zugleich Wertschranken sein müssen, wenn das Wesen des Wertes wirklich in der wie immer verstandenen Begehrbarkeit gelegen ist. Und auf den ersten Blick könnte man vielleicht auch an die Koinzidenz dieser Schranken glauben: unser Begehren ist in deutlicher Weise auf Künftiges gerichtet, indes sich das vergangene „Perfekte" unserem Begehren entzieht; in gleicher Weise ist die Wertlosigkeit des Gewesenen und Gehabten sprichwörtlich.2 Auch die Wertlosigkeit einer bereits benützten Fahr- oder Eintrittskarte oder selbst eines benützten Streichholzes scheint die typische Unzugänglichkeit der Vergangenheit für den Wert zu illustrieren. Indes erkennt man zunächst die beiden letzten Beispiele ohne Mühe als verfehlt, was vielleicht am abgebrannten Streichholz besonders deutlich zutage tritt. Es ist ja gar nicht mehr das Streichholz, das vordem Wert hatte; es ist eben ein abgebranntes Streichholz und dieses hat gegenwärtig so wenig Wert wie es in der Vergangenheit Wert gehabt hätte. Ob ein Vergangenes als solches jetzt noch Wert haben könnte, wird durch das Beispiel also gar nicht berührt, und mit der Eintrittskarte steht es auch nicht anders: hat sich auch vielleicht ihr Aussehen gelegentlich der Benützung nicht geändert, so hat sie gleichwohl durch die Benützung eben das verloren, was vorher ihren Wert begründete. Nun ist aber weiter die Meinung, das „Gewesene" als solches könne keinen Wert haben, auch an sich zweifellos irrig: schon zu Beginn dieser Darlegungen³ stießen wir auf Belege vom Gegenteil. Ist ein Volk stolz auf seine Geschichte, freut sich der Ein- zelne, dies, und bedauert er, jenes erlebt oder getan zu haben, so tritt ja Vergangenes in augenfälligster Weise unter den Gesichtspunkt des positiv oder auch negativ Wertvollen. Allerdings ist nun auch dem Begehren die Vergangenheit keineswegś prinzipiell verschlossen: wer in Kriegszeiten einen Ort ohne telegraphische oder vielleicht gar ohne tägliche Postverbindung bewohnt, wird leicht genug in die Lage kommen zu wünschen, etwa der gestrige Tag, an dem diese oder jene Entschei- dung stattfinden sollte, möchte günstig verlaufen sein. Daß gleichwohl die eben beigebrachten Fälle wertvoller Vergangenheit nicht in den Bereich des Begehrbaren gehören, ist auf den ersten Blick deutlich und es entsteht so das Bedürfnis, über die wahre Natur der Begehrungs- schranken ins Klare zu kommen. Näher sind solche Schranken durch Bezugnahme auf das Ver- gangene keineswegs allgemein genug gekennzeichnet. Nicht nur Ver- gangenes, sondern auch Gegenwärtiges und Künftiges kann ich nicht 2 99... 1 Vgl. „Über emotionale Präsentation", a. a. O., S. 96, bes. S. 164 ff. die zeitlichen Güter können nur Güter der Zukunft oder der Gegenwart sein, denn die Vergangenheit vermag mit Rücksicht auf die Vollen- dungstendenz keine Rolle als Schauplatz einer Wertverwirklichung zu spielen" (H. Rickert,,,Vom System der Werte", Logos, Bd. IV, 1913, S. 303). 3 Vgl. oben S. 6.