§ 2. Wert und Bedürfnis. 15 Es wird kaum jemanden geben, der sich die Frage nach diesem Wesen vorlegt, ohne sofort auf den Umstand aufmerksam zu werden, daß jedes solche Erlebnis ein Gerichtetsein auf etwas, auf ein Objekt aufweist, und zwar auf eines, das nicht existiert. Zwar spricht man ein Bedürfnis nach Kleidung oder Obdach auch dem zu, der Kleidung und Wohnung hat; das wäre natürlich ebenfalls ein Bedürfnis nach etwas, aber nach etwas, das existiert: man nennt das wohl ein „befriedigtes" Bedürfnis. Aber hier merkt man sofort, daß es sich bei dem Attribut befrie- digt um eine jener Scheindeterminationen handelt, von denen bereits B. Bolzano gezeigt hat¹, daß sie das angeblich bloß näher Bestimmte in Wahrheit abändern: ein befriedigtes Bedürfnis ist streng genommen nicht mehr Bedürfnis, als etwa ein ausgebranntes Feuer ein Feuer ist. Man kann also ganz allgemein sagen: Ein Bedürfnis ist stets auf ein Nichtexistierendes als auf sein Objekt gerichtet. " Die Gegenständlichkeit, die sonach allem Bedürfnis konstitutiv ist, legt die Vermutung nahe, beim Bedürfnis werde man es mit einem psychischen Erlebnis zu tun haben, da bei einem solchen die Gegen- ständlichkeit ja eine so wesentliche Rolle spielt. Ganz zwingend ist eine derartige Erwägung nicht: was auf etwas, also auf einen Gegenstand gerichtet ist, braucht nicht geradezu ein Erlebnis zu sein, wie schon jeder Fall von Bewegung in eigentlichem, unübertragenem Sinne, z. B. die Bewegung des fallenden Steines beweist, die auf den Erdmittel- punkt gerichtet ist. Für das Bedürfnis aber bewährt sich, vorerst von einigen anscheinenden Gegeninstanzen abgesehen, auf die wir unten² zurückkommen, die Vermutung: jedem Bedürfnis ist ein Erlebnis wesent- lich, das man deshalb ganz wohl das Bedürfniserlebnis nennen kann. Das Erlebnis ist allemal ein Unlustgefühl, das Wort im weiten Sinne verstanden, wie er in der Psychologie gebräuchlich ist. Denn Bedürfnisobjekt, das übrigens sehr verschieden beschaffen sein kann, gilt ohne Ausnahme, daß unter der Nichtexistenz desselben das bedürftige Subjekt in irgend einer Weise leidet. Dabei kann das Verhältnis dieses Leidens zu jener Abwesenheit zwei Gestalten annehmen. Wer seine Umgebung an seiner Lebensarbeit teilnahmslos, wohl gar übelwillig vorübergehen sieht, der hat ein Bedürfnis nach Verständnis und gutem Willen er weiß, daß beides fehlt und an dieses Wissen knüpft sich sein Leid. Aber auch der Kranke, der in einer feuchten, finsteren Kammer vergebens auf Genesung wartet, hat Bedürfnis nach Licht und Luft, selbst wenn er den Mangel daran nicht direkt als Übel verspürt, und wenn er auch nicht weiß, daß die Beseitigung des Mangels eine Bedingung seiner Genesung ausmacht. Man sieht, daß von diesen beiden Fällen nur der erste ganz, der zweite hingegen bloß sozusagen seinem zweiten Teile, dem Leiden nach in den Bereich des Erlebbaren fällt. Mit Rücksicht hierauf kann man passend von vollständig erlebten gegen- über unvollständig erlebten Bedürfnissen reden. 1 Wissenschaftslehre. 2 Vgl. S. 17.