14 I. Voruntersuchungen. A dem wirklich Lebensmüden ein Bedürfnis nach dem zuzusprechen sein, was sein Leben erhält? Oder kann man die Bedürfnisse eines physisch oder psychisch Kranken, der die Mängel seiner Veranlagung gut genug kennt, um sie durchaus nicht an künftige Generationen vererben zu wollen, unter dem Gesichtspunkte der Arterhaltung verstehen wollen? [*] Es kann also keineswegs alles, was der Selbst- und Arterhaltung dient, zwanglos unter den Gesichtspunkt des Bedürfnisses gebracht werden. Steht aber umgekehrt wenigstens jedes Bedürfnis mit Selbst- oder Arterhaltung in ausreichend enger Verbindung? Gesetzt, die Verbindung bestünde, so wäre das für eine darauf bezogene Bedürfnisdefinition noch keineswegs beweisend: auch Erkenntnis ist nicht,,Anpassung der Gedanken an die Tatsachen", obwohl diese Anpassung mit der Erkenntnis meist mitgegeben ist. Aber in unserem Falle ist das Bestehen der Verbindung nichts weniger als selbstverständlich. Wer friert oder hungrig ist, hat sicher ein Bedürfnis nach Wärme und Speise, der müde Wanderer ein Bedürfnis nach einem Ruheplatz und so fort. Aber dies alles offenbar lange, bevor sein Leben dabei auch nur im entferntesten bedroht ist. Und beim Anerkennungsbedürfnis des Eitlen oder Ehrgeizigen scheinen einigermaßen vitale Momente überhaupt nicht leicht in Frage kommen. zu können. Man beruft sich hier freilich leicht und gern darauf, daß Freude von Natur lebensfördernd, Leid lebenshemmend sei, und wird hiemit innerhalb angemessener Grenzen auch etwas recht Wahrschein- liches herangezogen haben. Aber dieser Bedeutung von Lust und Unlust sind wir beim heutigen Stande unseres psychologischen Wissens um vieles weniger sicher als jener Bedürfnistatsachen, die man auf sie zurückzuführen versucht. Jene Bedürfnisse sind also als solche doch wohl schon erkennbar ohne Hilfe dieser Hypothese: und der Frierende wird sicher auch dann ein Bedürfnis nach dem warmen Zimmer haben, wenn ihm nachgewiesen werden könnte, daß das Frieren der Selbst- und Arterhaltung im allgemeinen oder in diesem besonderen Falle nicht. das Geringste abträgt. Es könnte leicht sein, daß, sobald der eben aufgewiesene Mangel an der vorausgesetzten Koinzidenz zugegeben werden muß, damit auch das Hauptinteresse an der Bedürfnisdefinition des Wertes geschwunden ist. Dieses Interesse wurzelt ja nicht zum geringsten Teile in der Hoff- nung, mit Hilfe der in Rede stehenden Definition den Wert von jeder etwa zu besorgenden Beziehung zur Psychologie loszulösen, zugleich aber doch dem Kompetenzgebiete biologischer Betrachtungsweise¹ zu sichern, der das oben konstatierte anscheinende Hinausreichen des Wertes über das Organische schwerlich nennenswerte Schwierigkeiten zu bereiten imstande wäre. Inzwischen überhebt uns dieser Fehlschlag doch in keiner Weise der Aufgabe, das Verhältnis zwischen Wert und Bedürfnis dadurch zu klären, daß wir in das Wesen des Bedürfnisses einen positiven Ein- blick zu gewinnen versuchen. 1 Gegen Überschätzung des biologischen Momentes in der Werttheorie vgl. jetzt übrigens R. Müller-Freienfels „Grundzüge einer neuen Wertlehre" in den „Annalen der Philosophie", Bd. I, 1919, S. 358 ff.