§ 2. Wert und Bedürfnis. 13 Ungreifbarkeit psychischer Erlebnisse an sich zu haben scheint, doch glücklich noch auf das Gebiet des so beruhigend greifbaren Körperlichen hinübergerettet und ihn so jener,,naturwissenschaftlichen" Betrachtungs- weise zugeführt zu haben, von der auch heute noch wissenschaftlich ganz gebildete Menschen im stillen meinen, daß sie sich um keinen Preis auf etwas Außerphysisches, das heißt eben auf Psychisches ein- lassen dürfe. Unter solchen Umständen ist hier vor allem zu fragen unerläßlich, inwieweit es mit der physischen Natur des Bedürfnisses denn eigentlich seine Richtigkeit habe. Der Nachweis dafür scheint fürs erste leicht zu erbringen. Es ist ja nichts alltäglicher, als von leiblichen Bedürfnissen zu reden, die man dem Tiere ebenso gut zuschreibt wie dem Menschen. Dann sagt man aber auch noch ebenso natürlich von den Pflanzen, sie brauchen oder bedürfen Licht, Luft und so fort; und am Ende ist das Anwendungs- gebiet unseres Wortes nicht einmal durch die Grenzen organischen Lebens eingeschränkt. Ein Elektromotor,,bedarf" eines Stromes von dieser Stärke und jener Spannung, ein Straßenbahnwagen eines Motors von so und soviel Pferdekräften; ein zu lange ununterbrochen benütztes Leclanché-Element,,bedarf" der Ruhe so gut wie ein zu stark ausge- nützter Ackergrund; ein schadhaftes Gerät,,bedarf" der Ausbesserung und so fort. Überdies scheint es nun aber auch leicht, den Gesichts- punkt anzugeben, der für diese so außerordentlich weite Anwendung des Wortes,,Bedürfnis" als entscheidend angesehen werden kann und der einen Rekurs auf Psychisches in keiner Weise verlangt. Ein ver- fallendes Haus,,bedarf" der Reparaturen, weil es ohne diese zugrunde ginge: es,,bedarf" eben dessen, was zu seiner Erhaltung nötig ist. Noch deutlicher wird dies auf dem Gebiete organischen Lebens; und hier tritt eventuell noch das Moment der Arterhaltung hinzu, der man dann das auch über die Organismen hinaus für das Bedürfnis Maßgebende als Selbsterhaltung gegenüberstellt. So ist es denn in der Tat der Zusammen- hang mit Selbst- und Arterhaltung, durch den man die Tatsache des Bedürfnisses ausreichend charakterisieren zu können meint: er bietet demgemäß auch gar keinen Anlaß, über das wohlvertraute Gebiet des Physischen hinauszugehen. Stellt man sich hier nicht etwa auf den stets in gewissem Sinne unangreifbaren Standpunkt eines ,,sic volo" auf Grund der Definitions- freiheit, so muß man einer solchen Auffassung schon die Tatsache ent- gegenhalten, daß man, natürliche Redeweise vorausgesetzt, das Wort ,,Bedürfnis" kaum auf jeden Fall von Erhaltung wird anwenden wollen: vom Bedürfnisse eines Karzinoms nach Nahrungszufuhr oder eines Hoch- wassers nach dem Bruch eines Schutzdammes wird doch nicht gut zu reden sein, woraus zu schließen ist, daß die Selbsterhaltung nur unter gewissen Vorbehalten¹ mit der Tatsache des Bedürfnisses in engem Konnex steht. An einem solchen Vorbehalte scheint es aber auch im Bereiche der menschlichen Bedürfnisse keineswegs zu fehlen. Oder wird 1 Auf die Natur dieses Vorbehaltes kommen wir unten S. 16 zurück.