78 Erlebnisses.¹ Im Falle des Wollens nennen wir diese reale Grund- lage den Willen; er ist die dauernde psychische Vertretung dessen, was sich uns in sinnmäßiger Bestimmtheit als das Gesamt- wollen eines Menschen dargestellt hat. Zum Gesamtwollen einer Gesellschaft ist ein Wille von der Art des individuellen nicht auf- zufinden; ihn vertritt eine Mehrheit von Willensindividuen, die aber immerhin nicht ein bloßes Kollektiv, sondern durch reale Zusammen- hänge mannigfach vermittelter wechselseitiger Beeinflussung ver- bunden ist und durch diese eine freilich unvollkommene Abbildung und vorfindliche Vertretung in den einzelnen Willen findet. So wird der einzelne, indem er dem Gesamtwillen nachgeht, sich am Ende doch auf seinen gesellschaftlich bestimmten Willen besinnen. Eine Überlegung, die auf richtiges Wollen abzielt, ist immer ein Besinnen auf den eigenen Willen und stellt sich oft auch in dieser Form dar. Man fragt sich: was will ich eigentlich? ist das, was ich da möchte, auch eigentlich das, was ich will? Da die Tatsachen überall mitgeurteilt sind und, was sein soll, überall mitgewollt ist, haben alle Überzeugungen und alle Willen einen Kern, worin sie übereinstimmen und richtig sind. Der Verbrecher aus Schwäche und sogar der Bösewicht will im Grunde, was sein soll; nur darin fehlt er, daß er zugleich auch will, was nicht sein soll. So widerspricht sein Wollen sich selbst und dem Gesetze, das es sich selber gibt, indem es einfach Wollen ist. Jedes böse Wollen ist auch eine Art Dummheit, mag es noch so klug und scharfsinnig sein. Überzeu- gungen, die, weil sie richtig sind, in jedem Denken eingeschlossen sind und in jedem Geiste irgendwo bereit liegen. Sie sind alle auch schon geäußert worden, aber erst durch die Einsicht in die Gesetze des Sollens erhalten sie ihre klare wissenschaftliche Bedeutung und Begründung.2 Wo Überlegung einem Entschlusse vorausgeht, wird in Urteilen die Sachlage und der zu erwartende Erfolg überblickt, es kommt zu einem eigentlich urteilsmotivierten Wollen. Aber sehr oft, in un- wichtigen Dingen und auch in wichtigen, wo zur Überlegung keine Zeit ist, handeln wir ohne zu überlegen, ohne deshalb „unüberlegt“ handeln zu müssen. Auch hier ist in einem raschen überschauenden Urteil die ganze Sachlage erfaßt, nur ohne Zergliederung; es bleibt das meiste davon nur gemeint, was bei weiterer Analyse auch aus- drücklich gedacht würde, sowohl auf Seite des vorgegebenen Tat- ---- 1 Vgl. meinen Artikel „Über Begriffsbildung“ in den „Beiträgen zur Päda- gogik und Dispositionstheorie", herausgegeben von A. Meinong, Prag, Wien, Leipzig, 1919, S. 94 ff. Zum Begriff der Disposition vgl. Meinong, „All- gemeines zur Lehre von den Dispositionen", ebenda, S. 33 ff. 2 Vgl. auch H. Pichler, „Zur Logik der Gemeinschaft“, Tübingen, 1924. Eine Arbeit, die mit der vorliegenden darin übereinstimmt, daß sie wesent- liche und nicht bloß zufällige Analogien zwischen Urteil und Wollen, Wahrem und Gutem aufdeckt, außerdem zieht sie auch das ästhetische Gefühl und das Schöne, das ihm entspricht, mit in Betrachtung.